- Österreich: Erste Republik
- Österreich: Erste RepublikDie Erste Republik Österreich entstand nicht zielgerichtet und nicht ausschließlich im Zuge einer Willensbildung der Bevölkerung. Sie war das politische Resultat des Ersten Weltkrieges, als in den letzten Monaten vor der Niederlage die alte Struktur der Habsburgermonarchie zerbrach und ein »Rest« mit völlig unklaren Grenzen übrig blieb, der sich unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht als Teil Deutschlands begriff, da er weitgehend von deutsch sprechenden Menschen bewohnt war. Die staatliche Selbstständigkeit war eine politische Entscheidung, die außerhalb Österreichs gefällt wurde, als machtpolitisches Kalkül der Siegermächte. Die Staatsform aber kam von einer inneren Bewegung, einer sozialen Revolution als Antwort auf die Lebensbedingungen bei Kriegsende, und die Diskreditierung der Herrschaft der Habsburger.Die AusgangslageDie Republik Deutschösterreich, wie sie anfangs hieß, hatte sich ihre Strukturen gänzlich neu zu bilden. Das politische System, geschaffen von der aus der Monarchie herausgewachsenen Parteienlandschaft, charakterisierten im Wesentlichen drei Gruppen: die Sozialdemokraten, denen es gelang, eine Spaltung der Linken zu verhindern und praktisch die gesamte Arbeiterschaft zu repräsentieren; die Christlichsozialen, die die Länder parteipolitisch beherrschten und eine starke katholische Ausrichtung hatten; das nationale Lager, das anfangs von den Großdeutschen gebildet war und eine Stütze im Bildungsbürgertum hatte. Diese Gruppen verständigten sich auf die Verfassung von 1920, die von Hans Kelsen entwickelt worden war. Sie schuf ein starkes Parlament, das nach dem Verhältniswahlrecht zusammengesetzt war, und ein Präsidentenamt mit Repräsentationsfunktion; sie zeigte zugleich ein zentralistisches Grundverständnis, um den starken Länderidentitäten entgegenzuwirken. Der junge Staat musste darüber hinaus das Staatsgebiet definieren sowie die ökonomische und soziale Krise bewältigen. Praktisch war keine Grenze fixiert: Bis die Burgenlandfrage entschieden war und Ödenburg (Sopron) bei Ungarn verblieb, dauerte es lange. Dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dem späteren Jugoslawien, ging es um die Untersteiermark, die Österreich verlor, und um das südöstliche Kärnten, das nach einem Abwehrkampf und einer Volksabstimmung bei Österreich verblieb. Gegenüber Italien bildete vor allem die Südtirolfrage ein Problem, dessen Nachwirkungen bis in die Gegenwart zu spüren sind. Die Schweiz musste einen angestrebten »Anschluss« Vorarlbergs ablehnen. Die Grenze zu Deutschland war durch den Beschluss des Anschlusses durch das Parlament prinzipiell infrage gestellt. Zur Tschechoslowakei stellten die drei Millionen deutsch sprechenden Bewohner ein Konfliktpotenzial dar. Der Großteil dieser Entscheidungen wurde im Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye fixiert. Karl Renner musste die Bedingungen am 10. September 1919 unterschreiben, die Provisorische Nationalversammlung erteilte ihm »unter feierlichem Protest vor der Welt« die Zustimmung. Besonders das schon im Versailler Vertrag mit Deutschland enthaltene Anschlussverbot sorgte für Zündstoff.Die ökonomischen Auswirkungen des Krieges hatten dazu geführt, dass der Glaube an die Lebensfähigkeit des jungen Staates nicht sehr ausgeprägt war. Der Hunger der Städte war nur mit Lebensmittellieferungen der Alliierten notdürftig gestillt worden, auf dem Land sicherte man sich auch mit Gewalt gegen Plünderungen. Da es keine sichtbare Staatsgewalt in den letzten Kriegstagen gegeben hatte, verblieben zahlreiche Waffen in privaten Händen, mit denen Eigentum und Grenzen geschützt wurden und aus deren Besitzern sich letztlich die Heimwehren rekrutierten. In den Städten und Industrieorten hatten sich Arbeiter- und Soldatenräte als Ordnungsmacht gebildet. Sie waren gleichsam die außerparlamentarische Ergänzung der Sozialdemokratie, mit deren Hilfe die Sozialgesetzgebung unter Ferdinand Hanusch realisiert wurde, mit der sich Österreich als führender Sozialstaat etablierte.Die gespaltene GesellschaftNach der Unterzeichnung des Friedensvertrages zerbrach 1920 die Koalition der großen Parteien; die gesamte verbleibende Zeit der Ersten Republik war von einer tiefen Spaltung der Gesellschaft gekennzeichnet. Die Großstadt Wien, in der ein Drittel der österreichischen Bevölkerung wohnte, war das moderne pulsierende Zentrum eines Reiches mit mehr als 50 Millionen Einwohnern gewesen und war nun mit seiner Größe, seiner Dynamik, seiner Kultur und seinen Bildungsinstitutionen der neuen Situation des Kleinstaates nicht angepasst. In den Bundesländern gab es zwar Industrie, aber die Märkte waren weggebrochen. So dominierte außerhalb Wiens der konservative, agrarische Sektor. Stadt und Land wiesen gegensätzliche politische Kräfte, gegensätzliche Moral- und Wertevorstellungen sowie unterschiedliche Kulturen auf. Das »Rote Wien« mit seinen Leistungen im sozialen Wohnungsbau, in der Gesundheitsvorsorge und im Schulsystem verpflichtete seine Anhänger in einen lebensumspannenden Zusammenhang mit Alternativangeboten zu katholischen Sinnstiftungen. Im Land galt die Stadt als Hort der Unmoral, dem gegenüber Tradition und Glauben zu betonen seien.Dieser politisch-kulturelle Gegensatz fand allerdings unter den Besonderheiten der Ersten Republik auch seinen Ausdruck in politischer Gewalt. Hatten sich aus den lokalen und regionalen Schutzverbänden die konservativen Heimwehren herausgebildet, so entstanden aus sozialdemokratischen Ordnerverbänden ebenfalls bewaffnete Einheiten, die im »Republikanischen Schutzbund« zusammengefasst wurden. War das österreichische Militär durch den Friedensvertrag auf die Größe von 30000 Mann reduziert, so organisierten die Privatarmeen der Rechten und der Linken gemeinsam an die 180000 Mann, die um die Vorherrschaft auf der Straße kämpften.Wohl gelang nach einer ungeheuren Inflation im ökonomischen Bereich die Sanierung der Währung über eine Völkerbundsanleihe, die 1922 von Bundeskanzler Ignaz Seipel erreicht wurde. Arbeitslosigkeit und Armut kennzeichnen aber die Geschichte der Ersten Republik. Das Fehlen demokratischer Traditionen, die geringe Identifikation mit dem Staat und das Auseinanderfallen von staatlicher und nationaler Identität bildeten in Verbindung mit wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit den Nährboden für die politische Gewalt.Bei politisch motivierten Zusammenstößen starben schon vor dem österreichischen Bürgerkrieg von 1934 viele Menschen. Aus dieser Schreckensbilanz stechen der blutige Zwischenfall in der burgenländischen Gemeinde Schattendorf und seine Folgen im Jahr 1927 hervor. Sie stehen symbolisch für eine der großen Konfliktlinien der Ersten Republik. Der Staat war in konservativen Händen, der Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel stand für das nahe Verhältnis von Staat und Kirche; intellektuell brillant war er der Widerpart des Austromarxisten Otto Bauer, der die Sozialdemokratie mit verbaler Schärfe und moderater Praxis führte. Die politische Kirche und die verbalradikale Sozialdemokratie standen für die gespaltene Gesellschaft: Kirchenaustritte, Misstrauen gegenüber dem Staat waren die Reaktionen der Linken. Die Rechte fürchtete ein Weitertreiben der Revolution von 1918 und wollte zu traditionellen Werten zurückgelangen.Die Demokratie geht zu EndeTrotz der hohen Konfliktbereitschaft kannte die Erste Republik auch Formen gemeinsamer Politik, besonders die Verfassungsreform von 1929, die die Rechte des Bundespräsidenten stärkte und auch seine Wahl durch das Volk festsetzte. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 vernichtete in Österreich jeden dritten Arbeitsplatz und führte dazu, dass 600000 Menschen arbeitslos wurden und viele von ihnen aus dem sozialen Netz fielen. Dieses Arbeitslosenheer führte zu verstärktem Zulauf zu den Wehrverbänden, und auch der Nationalsozialismus erfuhr von dieser Seite erstmals Zuspruch. 1931 versuchte der frühere Bundeskanzler und nunmehrige Außenminister Johannes Schober, der als Polizeipräsident 1927 eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatte, zu einer Zollunion mit Deutschland zu gelangen, die aber vom Internationalen Gerichtshof untersagt wurde. Eine Völkerbundanleihe von 300 Millionen Schilling, die die Regierung Dollfuß im Juli 1932 erreichen konnte, schrieb für 20 Jahre das Anschlussverbot fest und führte zur Völkerbundkontrolle des Staatshaushalts. Daher war sie politisch hart umkämpft.Insgesamt sank das Vertrauen in die Demokratie. Die Heimwehren legten sich 1930 in einem »Korneuburger Eid« auf einen autoritären, antidemokratischen Weg fest. 1932 erreichten die Nationalsozialisten einen signifikanten Erfolg bei mehreren Landtagswahlen. Die konservativ nationale Koalition, die im Januar 1932 zerbrochen war, hatte keine Zukunft mehr, keines der drei Lager war allein mehrheitsfähig, Gemeinsamkeiten waren nicht sichtbar. Um Neuwahlen zu verhindern, zahlte Engelbert Dollfuß einen hohen Preis: die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie. Die Machtübernahme Adolf Hitlers 1933 in Deutschland führte zu verstärktem Druck der österreichischen Nationalsozialisten, die Neuwahlen forderten. In dieser Lage kam Dollfuß ein parlamentarischer Zwischenfall zu Hilfe: Bei einer Abstimmung legten nach einem Formfehler alle drei Präsidenten des Nationalrats ihr Amt nieder; dadurch war das Haus handlungsunfähig geworden. Statt einer Reparatur des Formfehlers regierte Dollfuß nunmehr mit dem »Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz« von 1917, das nie außer Kraft gesetzt worden war.Bürgerkrieg und StändestaatBei anhaltender Wirtschaftskrise ging es der Regierung, orientiert am faschistischen Italien und Ungarn, darum, innenpolitisch der Linken die Machtbasis zu entziehen und außenpolitisch eine Annäherung an Deutschland zu vermeiden. Während die Nationalsozialisten durch ihren Aktionismus Zulauf erhielten, blieben die Sozialdemokraten defensiv. Ihre Führer rangen um Kompromisse, waren zu weit gehenden Zugeständnissen an die Regierung bereit und definierten nur die Grenzlinie, die diese nicht überschreiten solle: die Absetzung des Wiener Bürgermeisters, die Gleichschaltung der Gewerkschaften und die Auflösung der Partei. Diese sah aber tatenlos zu, wie die Waffenlager des Republikanischen Schutzbundes ausgehoben wurden. Als sich die Linzer Sozialdemokraten unter Richard Bernaschek am 12. Februar 1934 gegen eine Durchsuchung ihres Parteilokals wehrten, war dies der Startschuss zu einer kurzen, aber heftigen bewaffneten Auseinandersetzung. In Wien, Steyr, Kapfenberg, Bruck und in einigen anderen Industrieorten wurde das Signal von Linz aufgegriffen. Nach drei Tagen war der Kampf aber zu Ende; er forderte Hunderte von Toten und viele Verwundete und löste eine Fluchtwelle aus. Etliche Führer des Aufstandes wurden standrechtlich hingerichtet. Das Ereignis riss Gräben auf, die erst nach der Erfahrung der nationalsozialistischen Herrschaft überwunden wurden.Dollfuß konnte nun seine Form der Diktatur, die Benito Mussolini verpflichtet war, errichten. Am 1. Mai 1934 wurde die Verfassung des Ständestaates verabschiedet. Aber der zweite innenpolitische Gegner, der Nationalsozialismus, bedrohte mit seinem Putsch im Juli desselben Jahres den Staat nochmals sehr ernsthaft. Die Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß sowie blutige Kämpfe vor allem in den südlichen Bundesländern, die Besetzung des Rundfunks und wiederum Hunderte von Toten waren die Bilanz dieses neuerlichen politischen Ringens. Der neue Bundeskanzler Kurt Schuschnigg musste schließlich zur Kenntnis nehmen, dass die Annäherung zwischen Hitler und Mussolini ab 1936 Österreich des italienischen Schutzes beraubte. Im Juliabkommen von 1936 wurde daher der Versuch einer Annäherung an Deutschland bei Aufrechterhaltung der österreichischen Souveränität unternommen. Dieser Versuch musste scheitern, da dem Staat die innere und äußere Legitimation fehlte. Der »Anschluss«, die Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich im März 1938, war sowohl das Resultat einer Aggression Deutschlands als auch das einer innerösterreichischen Bewegung. Bereits 1938 war die Opfer- und Täterrolle für die Österreicher verwischt, ein Bewusstseinsstand, der auch in den Folgejahren und im späteren Geschichtsbild so bleiben sollte.Prof. Dr. Helmut Konrad, GrazGrundlegende Informationen finden Sie unter:Österreich-Ungarn: Nationale Fragen in der Donaumonarchie
Universal-Lexikon. 2012.